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Vertrauen: Ein geschundener Begriff

Geschrieben von Silke Katterbach

Vertrauen ist aus meiner Sicht ein geschundener Begriff. In jedem Workshop wird er benutzt, gemolken und missbraucht. Denn was wir mal eben herausposaunen als Grundlage guter Zusammenarbeit und wichtigste Säule der Unternehmensphilosophie ist mehr als das, was die meisten Nutzer dieses Wortes geben können.

Vertrauen beruht auf drei Erwartungen:

Der Kompetenzerwartung: Ich erwarte von der Person, der ich mein Vertrauen schenke, dass sie über die Kompetenz verfügt, die Dinge richtig zu verstehen, zu durchdringen und demgemäß zu handeln. Sacken lassen! Mal ehrlich: Wie vielen meiner Kollegen begegne ich mit der Überzeugung, dass sie über diese Kompetenz verfügen?

Der Integritätserwartung: Ich erwarte von der Person, der ich mein Vertrauen schenke, dass sie 100%ig integer mir und der Sache gegenüber steht. Sacken lassen! Spielen nicht doch egoistische Interessen eine größere Rolle? Hat der Müller nicht letzte Woche einfach sein eigenes Ding durchgezogen?

Der Benevolenzerwartung: Ich erwarte von der Person, der ich mein Vertrauen schenke, dass sie mir jederzeit wohlgesonnen ist. Sacken lassen! Klar haben wir neulich im Kollegenkreis ein Bier zusammen getrunken und uns von der lauschigen Stimmung zu innigen Umarmungen und Aussagen über ewige Freundschaft und Kollegialität hinreißen lassen. Aber hat Meier nicht gerade letzte Woche mit Schmidt über meinen letzten Projektbericht gelästert und mich in die Pfanne gehauen?

Bevor wir also mit diesem großen Wort um uns werfen und von den Kollegen, ja sogar von einem Unternehmen (also der willkürlichen Ansammlung unterschiedlichster Menschen!) Vertrauen einfordern, sollten wir einen Augenblick über unsere eigene Einstellung zu diesem menschlichen Geschenk nachdenken. Und auch über die Frage, ob ein Team oder ein Unternehmen überhaupt ein Ort sein kann, wo wir Vertrauen im ursprünglichen Sinne einfordern oder erwarten können. Denn Vertrauensbeziehungen basieren in der Regel auf Gegenseitigkeit. Unbewusst nehmen wir also permanent einen Abgleich vor, ob in angemessener Form auf unsere Vorleistung das Vertrauen auch zurückgegeben wird.

Vertrauen ist der Wille, sich verletzlich zu zeigen. Mal ehrlich: Wie bereit bin ich denn tatsächlich, mich am Arbeitsplatz verletzlich zu zeigen? Wozu auch? Wir sind Bestandteil eines kulturellen Kraftfelds, in dem diese Dimension zwar vorhanden ist, jedoch viel zu oft keine Priorität hat. In diesem Umfeld entscheidet sich das Individuum verständlicherweise gegen eine Vertrauensbeziehung und für ein „Mitspielen“, um die eigene Existenz nicht zu gefährden. Denn mehrere Vertrauensdimensionen steuern das Handeln:

Vertrauen entsteht in Situationen, in denen der Vertrauende (der Vertrauensgeber) mehr verlieren als gewinnen kann – er riskiert einen Schaden bzw. eine Verletzung.
Vertrauen manifestiert sich in Handlungen, die die eigene Verletzlichkeit erhöhen. Man liefert sich dem Vertrauensnehmer aus und setzt zum Vertrauenssprung an.
Der Grund, warum man sich ausliefert, ist die positive Erwartung, dass der Vertrauensnehmer die Situation nicht zum Schaden des Vertrauensgebers verwendet.

Vertrauen ist erlerntes Verhalten und eine erlernte Entscheidung und damit abhängig von der Kultur, die uns geprägt hat und in der wir agieren. Noch dazu brauchen wir viel Zeit, um Vertrauen aufzubauen aber nur Sekunden, um es zu entziehen mit dem Vorsatz, es an dieser Stelle auch nie wieder zu geben. Denn Vertrauen ist ein Reifungsprozess (kein Instantprodukt). Da gibt es kein „On-Off“. Manchmal müssen wir sehr mühsam lernen, nach schlechten Erfahrungen überhaupt wieder vertrauen zu können und mit unserem eigenen Verhalten wieder in Vorleistung zu treten. Im Arbeitskontext heißt Lernen: Verzicht auf kurzfristige Vorteile, kein Profilieren auf Kosten Anderer, kein Verschweigen eigener Unzulänglichkeiten, keine Allianzen schmieden. Die Belohnung: Vertrauen minimiert Komplexität (Sachebene) und erhöht die empfundene Beziehungsqualität (Beziehungsebene).

Der Glaube daran, dass es gelingen kann, ist bereits der erste Vertrauensakt und ein Schlüssel für Resilienz, also die Fähigkeit, nach einschneidenden, meistens als negativ empfundenen Erfahrungen wieder in eine gesunde Balance zu kommen und handlungsfähig zu sein.

Da es sich aus meiner Sicht bei Vertrauen um ein Konstrukt handelt, dass so tief in der menschlichen Psyche verankert ist, sollten wir behutsam nicht nur mit dem Begriff, sondern auch mit dem Vertrauen selbst umgehen und zunächst einmal im Arbeitsumfeld durch Wertschätzung ersetzen. Das macht es einfacher und vor allem realistischer, die gemeinsamen Herausforderungen der Arbeit erfolgreich zu bewältigen und dabei ein unabhängiges Individuum zu bleiben. Praktizierte und aufrichtige Wertschätzung ist schon schwer genug.