Trapped in Stone Rock Church
Geschrieben von Silke Katterbach
Vier Wochen an die Ostsee, um konzentriert zu arbeiten, Projekte zu planen, Konzepte zu schreiben. Jetzt bin ich hier und der Plan geht soweit erstmal auf: Aufstehen, Sport und an den Schreibtisch. Zwischendurch eine halbe Stunde an den Strand – damit der Kopp frei wird.
Heute war Einkaufstag. 7 km mit dem Fahrrad bei strammem Wind in recht hügeliger Landschaft; dann der große Augenblick: ich erreiche EDEKA Borowski in Steinbergkirche, mein zivilisatorisches Highlight nach Tagen der Einsiedelei.
Schnell war der Einkauf erledigt und als ich gerade wieder auf meinen Drahtesel steigen will, öffnet sich der Himmel, der Regen fällt waagerecht und peitscht förmlich über den seelenlosen Parkplatz. Plötzlich ist quasi Nacht, an eine Rückfahrt ist nicht zu denken.
Steinbergkirche liegt an der B199 von Kappeln nach Flensburg, leider hat die Bundesstraße das Dorf zerschnitten wie ein Blitz eine alte Eiche – kein Leben mehr, aber: es gibt jetzt vor dem Ortsschild das Konsumparadies mit Aldi, Kaufhaus Stolz und eben Edeka Borowski. Der großer Parkplatz bildet das Zentrum.
Es gibt ein Café vorne im Edeka, ein Ort des Grauens, den ich aufsuchte, um den Regen abzuwarten. Meine Bewertung dieses Cafés ist natürlich eine arrogante Großstadtattitüde, wie mir schnell deutlich wurde. Es entpuppte sich als ein lebendiger Treffpunkt der Steinbergkirchener Einwohner:innen. Ich wurde Zeugin des Dorflebens, der Beziehungsstrukturen, der Kultur und der Kommunikationsformen, ein sehr aufschlussreicher Aufenthalt.
Eine Frau um die 60 betritt mit ihrem Einkaufswagen das Café und erkennt das noch etwas ältere Paar an meinem Nachbartisch. „Ja Moin! Wie geht´s?“ Ich glaube, sie erwartete keine aufrichtige Antwort. Es ging direkt weiter: „Ihr esst hier noch so viel kurz vor Middach? Dem Heiner geht es gar nicht gut! Habe neulich die Christa getroffen. Nee, dem geht es nicht gut, das Herz!“ Der ältere Herr am Nachbartisch nutzte eine Atempause und schob ein: „Ja, das Herz! Ist ja dann wohl Christas Schuld…“ – Mir wurde ganz warm ums Herz. Hatte Christa dem Heiner das Herz gebrochen? Nein, die Dame mit dem Einkaufswagen hatte das offensichtlich anders verstanden und stimmte meinem Nachbarn wissend nickend zu und grunzte: „Jou, zu viel Essen…“ Waren sich meine Nachbarn darüber im Klaren, dass sie gerade den Beiden den Herztod voraussagte?
Ein Herr weit über 70 saß mir schräg gegenüber, er starrte lange reglos auf das Wetterfiasko auf dem Parkplatz. Ein Mann um die 60 mit längerem Haar unter einem Cap, das seine Jugendlichkeit unterstreichen sollte, geht an seinem Tisch vorbei, grüßt und schmettert: „Ist ja wie in Las Vegas hier, ne?“ Ich musste lange darüber nachdenken, was er damit meinte. Irgendwann kam die Frau des älteren Herrn (auch mit dem Einkaufswagen) und setzte sich neben ihn. Ihre Worte: „Du hast ja immernoch nicht aufgegessen!“ Der Tonfall fuhr mir in die Glieder. Warum war sie so bestimmend? Nach ein paar Minuten setzte sie noch einen obendrauf: „Trink nicht so schnell!“ und noch etwas später: „Lass dir endlich was verschreiben, damit du nicht immer so wackelig bist!“ und noch etwas später: „Jetzt bring endlich das Geschirr weg!“ Er tat mir schon etwas leid. Doch beim Aufbruch des Paares ein paar Minuten später entdeckte die Frau meine Mütze, die vor mir auf dem Tisch lag und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie sprach mich direkt an: „Das ist ja ein schönes Muster! Wir lieben diese skandinavischen Länder mit diesen schönen Mustern!“ Ich war sehr berührt und antwortete aufrichtig, dass es sich bei der Mütze um ein Geschenk meiner Stieftochter handelt, das sie mir aus Spitzbergen mitgebracht hat. Sie drehte sich zu ihrem Partner um und rief aufgeregt: „Hast du das gehört? Aus SPITZBERGEN!“ und lächelte mir warmherzig zu. Ihr Gatte nickte anerkennend. Beim Rausgehen hörte ich sie nochmal „Spitzbergen“ sagen. Ich freute mich sehr, mich von ihnen verabschiedet und ihnen alles Gute gewünscht zu haben.
Mein Fazit dieses Vormittags (aus beruflicher und persönlicher) Sicht: Härte und Wärme – auch im Kommunikationsverhalten – liegen hier sehr nahe beieinander. Die Gespräche drücken sehr deutlich die Beziehungsstruktur aus. Es wird einfach nix drumgewickelt. Und außerdem: wir „Großstädter“ sind anders, aber nicht besser! Wer nicht völlig abgestumpft ist, dem wird das Herz warm bei der direkten Ansprache von Sehnsüchten. Und was zählt im Leben? Beziehungen, Verständnis und Empathie. Das gibt uns allen Kraft. It was nice to be trapped in Stone Rock Church.